Sonntag, 22. April 2012

Håkan Nesser - Die Perspektive des Gärtners

Den schwedischen Autor Håkan Nesser kannte ich bis dato nur durch seine fiktiven Inspektoren Barbarotti und Van Veteren. In „Die Perspektive des Gärtners“ schaut der Schriftsteller Erik durchs Fenster und beobachtet, wie seine vier jährige Tochter bei einem unbekannten Mann in dessen grünes Auto steigt. Die Polizei tappt in der Folge im Dunkeln, keine Leiche und kein Erpresserschreiben. Um dem Leidensdruck ein wenig zu entgehen, ziehen Erik und seine Frau Winnie nach New York in eine kleine, aber sündhaft teure Wohnung um. Etwa 14 Monate nach dem Verschwinden des Kindes verändert sich Winnie und Erik mutmaßt, dass seine Frau ihm etwas verheimlicht. Und dann ist sich Winnie sicher, dass das kleine Mädchen lebt und verlässt auf unbestimmte Zeit die gemeinsame Wohnung.

„Die Perspektive des Gärtners“ ist an sich kein typischer Krimi. Das Buch baut weniger auf Spannung, als auf das Beschreiben der jeweiligen Charaktere. Dabei dominieren zwei unterschiedliche Handlungsstränge. Aus der Ich-Perspektive beschreibt Erik die Gegenwart, mit Trauer, kaum vorhandener Zuversicht und dem Zerbrechen einer einst glücklichen Ehe, und aus der Vergangenheit berichtet er vom Kennenlernen, vom erfolgreichen Malen und Schreiben.

Nesser benutzt einen eher poetischen Stil als uns mit rasanter Spannung und dramaturgischen Wendungen in den Bann zu ziehen. Der Autor ist neben Mankell einer der erfolgreichsten skandinavischen Schriftsteller und schreibt doch so anders. Und das ist auch gut so. Das macht diesen Autor zu einer ständigen Empfehlung. Einzig: Die Übersetzung von Christel Hildebrandt erscheint mir an wenigen Stellen etwas unglücklich.

 
ISBN-10: 344275173X
ISBN-13:  978-3442751730
319 Seiten
erschienen am 23. August 2010
btb

Sonntag, 18. März 2012

Ken Follett - Die Tore der Welt

Wenn ich Verleger von Ken Follett wäre, dann hätte ich alleine aus monetären Gründen eine Fortsetzung des Klassikers „Die Säulen der Erde“ gefordert. Wenn ich Ken Follett persönlich wäre, dann hätte ich aus selbigen Gründen eine Fortführung der Geschichte geschrieben. Lassen wir es als gegeben stehen, dass die zahlreichen Fans des Schriftstellers genau dieses Buch wollten.

Historische Romane gibt es in Hülle und Fülle, nur wenige haben so eingeschlagen wie Folletts Story aus dem englischen Kingsbridge. Der Autor hat es im Grunde genommen clever gemacht. Er hat den Schauplatz samt Kirche beibehalten, hat sich 200 Jahre ins 14. Jahrhundert vor bewegt und ein paar wenigen Protagonisten verwandtschaftliche Beziehungen untergejubelt. Ansonsten ist „Die Tore der Welt“ ziemlich eigenständig und kann deswegen ohne „Die Säulen der Erde“ zu kennen gelesen werden. Was bei Freunden von Ken Follett allerdings kaum der Fall sein dürfte. 

Auf einen festen Plot, an dem sich die gesamte Geschichte entlang hangelt, wurde verzichtet. Vielmehr lesen wir die Lebensgeschichte zahlreicher Personen, die im damaligen England ihr (Un-)Wesen trieben. Adel, Ritter, Baumeister, Kaufleute, Mönche, gespickt mit außerordentlich viel Sex und anderen Sauereien, die dem Leser ein ums andere Mal auch Wut in den Bauch treiben. Ach ja, und dann gab es da noch eine schlimme Krankheit, die sich Pest nannte und von Italien aus rasend  schnell ganz Europa eroberte. Wer sind die Hauptprotagonisten? Eindeutig Caris und Merthin, ein talentierter Baumeister, eine Freundin namens Gwenda, ein unsympathischer Ralph sowie ein feiger und hinterlistiger Mönch mit Namen Godwyn. Klar, da gibt es noch viel mehr Menschen, über die der Leser auf den fast 1300 Seiten stolpert. 

Womit ich auch zur wirklich einzigen Kritik komme: Das Buch ist viel zu dick und die Story zu lang. Irgendwann nervt es, weil so manche Boshaftigkeit vorausschaubar ist, weil Caris ewig nicht in der Lage ist, ein und dieselbe Frage für sich selbst zu klären und weil Merthin unbelehrbar und auf ewig an einer einzigen Frau klebt. Insgesamt liest sich der Wälzer dennoch recht flott und einfach dahin, Follett entspannt den Leser mit recht weicher Kost und hat zudem offensichtlich gut recherchiert. Wer gerne Zeuge „Der Säulen der Erde“ war, wird auch gerne durch „Die Tore der Welt“ schreiten und die vielen Stunden mit diesem Schmöker nicht bereuen. 

ISBN-10:  3785723164
ISBN-13:  978-3785723166
1296 Seiten
erschienen am 29. Februar 2008
Bastei Lübbe

Montag, 13. Februar 2012

Ransom Riggs - Die Insel der besonderen Kinder


Dies ist die Geschichte von Jacob und seinem Großvater. Die Geschichte des Großvaters geht in diesem Buch zu Ende, die von Jacob hoffentlich noch lange nicht. Das könnte schon mein Fazit sein, denn das Ende von „Die Insel der besonderen Kinder“ schreit förmlich nach einer Fortsetzung.

Der junge Jacob kommt aus einer bürgerlichen amerikanischen Familie. Er pflegt ein besonders enges Verhältnis zu seinem Großvater, der ihm stets geheimnisvolle Geschichten aus dessen Vergangenheit erzählt. Anfangs glaubt Jacob seinem Großvater noch, doch je älter er wird, desto mehr hält er das Meiste für ausgedacht und fiktiv. Eines Tages erhält er von seinem Großvater einen Anruf, in dem dieser seinen Enkel um Hilfe bittet. Jacob kommt nicht mehr rechtzeitig am Haus des Großvaters an, er findet ihn schwer verletzt vor. Das letzte, was dieser Jacob noch ins Ohr flüstern kann, ist die Bitte, er möge den Vogel finden, in der Schleife, auf der anderen Seite vom Grab des alten Mannes, 3. September 1940. Danach stirbt der Großvater. Und einer Sache ist sich Jacob absolut sicher, nämlich dass er noch am Tatort ein Monster gesehen hat.

Von diesem Tag an ist Jacob davon besessen, die Insel zu besuchen, auf der sein Großvater in seiner Jugend lebte. In der Hoffnung, dass er herausfindet, was die erzählten Geschichten von Cairnholm bedeuten.

Ransom Riggs hat ein spannendes Fantasy-Buch geschrieben. Es ist für die Jugend geeignet, aber auch als Erwachsener hat man seinen Spaß an dieser Story. Ein ums andere Mal wird einem mit Fortgang der Geschichte vieles klarer, was zu Beginn noch ungeklärt im Raum steht. Alle Kreise schließen sich, es bleiben keine Fragen offen. Bis auf eine…nämlich: Wie geht es weiter?

Hervorzuheben sind außerdem die Fotos im Buch, die alle richtig platziert sind und durch den Text im Buch erläutert werden. Sie verleihen dem Leser noch mehr Vorstellungsvermögen von dem, was sie gerade lesen. Insgesamt ein hervorragendes Buch, ein Fantasy-Roman ohne Vampire, Drachen, Elfen und Zwerge, dafür aber mit Monstern und ganz besonderen Kindern.

416 Seiten
ISBN-10: 3426283689
ISBN-13: 978-3426283684
erschienen am 02. November 2011
PAN

Donnerstag, 12. Januar 2012

E.O. Wilson - Ameisenroman - Raff Codys Abenteuer

Der junge Raphael Semmes Cody hat von klein auf nur einen Wunsch, nämlich sein Leben als Biologe zu bestreiten. Diese Begeisterung rührt von seiner Heimat im Süden der USA, dem Nokobee. Eine noch unberührte Landschaft, mit teilweise unerforschten Pflanzen und Tieren. Schön früh erkennt der Bursche, dass die heutige Gesellschaft und ihre politischen, vor allen Dingen lobbyistischen Verflechtungen dazu führen werden, dass sich profitgierige Unternehmen daran versuchen, sich das Land unter den Nagel zu reißen. Auf Anraten seines Onkels schreibt sich „Raff“ an der Eliteuniversität in Harvard in Cambridge ein und studiert Jura. Er erkennt, dass er nur als Jurist für Umweltangelegenheiten eine Chance hat, das heimatliche Land in seiner Natürlichkeit zu belassen. Und so entbrennt ein taktisches Drahtziehen zwischen den Interessengruppen, gespickt mit klugen vorausschauenden Gesprächen und sonstigen Maßnahmen, die möglicherweise zum Erfolg führen können. Immer aus der Sicht des jeweiligen Interessenverbandes. Insofern bietet uns der Autor ein gutes Stück amerikanische Politik, wenn auch hier in der Hauptsache auf lokaler Ebene.

Apropos Autor: Edward Osborne Wilson, der zahlreiche und bedeutende Beiträge zur Evolutionstheorie geschrieben hat, präsentiert uns in seiner Eigenschaft als Spezialist für Ameisen und den Pheromonen in einem 90-seitigen Exkurs das Leben dieser Insekten, ihr Sozialverhalten, den Auf- und Niedergang eines ganzen Volkes. Das Ganze ist für den „normalen“ Leser so leicht nachvollziehbar und spannend zugleich, so dass man niemals das Gefühl bekommt, dass sich  dieser Roman in ein Sachbuch verwandelt. Spannend und überzeugend! Mit der Frage: Können Umweltschutz und kommerzieller Fortschritt miteinander einher gehen?

Der „Ameisenroman“ ist Gesellschaft, ein wenig Politik, es ist ein Krimi und zeitweise ein kurzweiliger Thriller, der im Hintergrund immer das Biogische mit sich führt. Das liest sich einfach und unterhaltsam. Da leuchtet schnell ein, warum dieses Buch so lange auf der Bestsellerliste der New York Times stand.

ISBN-10: 3406621988
ISBN-13: 978-3406621987
432 Seiten
erschienen am 19. September 2011
C.H. Beck

Freitag, 16. Dezember 2011

Siobhan Dowd/Patrick Ness - Sieben Minuten nach Mitternacht


Dieses Buch trägt schon in seiner Entstehung eine Tragik in sich. Siobhan Dowd, die erst im Alter von 46 Jahren ihren Debütroman „Ein reiner Schrei“ veröffentlichte, erlebte nur noch die Publikation ihres zweiten Werkes. Ein Buch, welches nach ihrer Idee entstand, sie es aber nicht mehr selbst schreiben konnte. Sie erlag mit 47 Jahren ihrem Krebsleiden. Patrick Ness, der auch als Literaturkritiker in London für die Tageszeitung „The Guardian“ tätig ist, schrieb „Sieben Minuten nach Mitternacht“, in dem er sich an dem vorgegebenen Gedankengerüst von Siobhan Dowd entlang hangelte. Das Ergebnis ist ein brillanter, äußerst atmosphärischer, nachdenklich stimmender Jugendroman.

Im Mittelpunkt steht Conor, ein 11-jähriger Junge, dessen Mutter an Krebs erkrankt ist und mit der er alleine lebt, da sein Vater inzwischen eine neue Familie gegründet hat und in den USA wohnt. Conor ist mit fortschreitender Dauer mehr und mehr auf sich selbst gestellt, da die Behandlungen seine Mutter schwer beeinträchtigen. Jede Nacht, um „Sieben Minuten nach Mitternacht“ erscheint das Monsters und tritt in das Leben von Conor ein. Der Junge steckt nicht voller Angst, nicht im Ansatz eingeschüchtert tritt er dem Monster entgegen, welches voller Weisheiten und brauchbaren Lebenseinstellungen steckt.

Dies ist kein Märchen, dies ist kein Fantasyroman, und somit sei verraten, dass das Monster nicht in der Lage ist, die Mutter von Conor auf wunderbarer Weise zu heilen. Aber es ist in der Lage, dem Jungen das Leben zu erklären und ihm klar zu machen, dass man die Herausforderungen annehmen muss. Um zu erfahren, wie das geht, muss Conor, ob er will oder nicht, mit dem Monster auf die Reise gehen…

Die wunderschönen Illustrationen stammen übrigens von Jim Kay. Sie sind eine Sammlung von Klecksen, Schlieren und Flecken, die mit Zeichnungen und Malereien zusammen gefügt sind.

Ohne Frage ein Jugendroman, der das Zeug dazu hat, Standardlektüre für diese Generation zu werden. Für Kinder nicht ganz so gut geeignet. Nicht, weil der Inhalt anstößig sein könnte, sondern weil sie die wesentlichen und treffenden Aussagen wohl noch nicht verstehen werden.

ISBN-10: 3570153746
ISBN-13: 979-3570153741
216 Seiten
erschienen am 29. August 2011
cbj

Freitag, 9. Dezember 2011

Jón Kalman Stefánsson - Der Schmerz der Engel

Jón Kalman Stefánsson nimmt uns mit auf eine Reise in Richtung des nördlichen Polarkreises. Island, die Insel im Nordatlantik, im Winter eisig kalt, mit rauen Naturgewalten, bergig und für einen Mitteleuropäer einsam. Menschen, die auf sich selbst gestellt sind, mit eigenen Spielregeln, an denen sich ihr Leben orientiert. Hart und grenzwertig.

Ein Junge, ein Waisenkind, und der Landbriefträger Jens begeben sich auf eine Postreise. Sie stemmen sich gegen die Naturgewalten, immer nah ab Abgrund und vor allen Dingen auf einem ganz schmalen Grat zwischen Leben und Tod. Island pur? Der Autor zeichnet für mich ein Bild eines zwar unwiderstehlichen, aber auch kaum zu bezwingenden Landes, welches durch die mehr oder weniger abschreckenden, aber faszinierenden  Beschreibungen Ehrfurcht einflößt, Respekt einfordert, aber auch auf der anderen Seite eine Menge an Sympathie und Liebenswürdigkeiten beim Leser hervorruft.

Dem werden insbesondere auch die Charaktere der Protagonisten gerecht. Der Junge, schon belesen und deswegen ein bisschen weiser als sein großer, lebenserfahrener Hüne. Der hingegen strotzt nur so vor Energie, kann hart und unversöhnlich mit sich selbst sein, und wirkt dennoch im späteren Verlauf der Geschichte auf den jungen Begleiter etwas angewiesen. Am Rande kann man erahnen, dass auch das Thema Freundschaft eine wichtige Rolle spielt. Mehr aber ist es die gegenseitige Verlässlichkeit, auf die es im Kampf gegen die Naturgewalten ankommt.

Dieses Buch ist zudem ein kleiner Gesellschaftsroman, wenn auch nur fast ausschließlich im ersten Teil des Buches. Der Einfluss der Kaufleute, die gesellschaftliche Stellung einer Arztfamilie, die Rolle der Frau in der isländischen hierarchischen Gesellschaftsstruktur und, man höre und staune, die Literatur selbst, sind interessante Aspekte, die dem Leser nahe gebracht werden. Das Ganze ginge natürlich noch viel intensiver und ausführlicher, so dass die beschriebene Reise und ihre Strapazen im zweiten Teil dieses Werkes und die damit verbundenen Inhaltsstoffe wahrlich bewusst, manchmal etwas ausufernd, von Stefánsson mehr in den Mittelpunkt gerückt wurden.

Das Buch liest sich nicht immer leicht. Dies stellt kein Problem dar, denn der Autor schafft es mit seiner intensiven, aber sanften Ausdruckskraft schnell, den Leser in den Geschehensablauf hinein zu ziehen. Fern ab von einem gewöhnlichen, aber unterhaltenden Actionroman wird man Zeuge eines Überlebenskampfes gegen die Gewalten der Natur, von zwei „Männern“, die nicht unterschiedlicher sein könnten. Sehr lesenswert!

ISBN-10: 3492053904
ISBN-13: 978-3492053907
343 Seiten
erschienen im September 2011
Piper

Dienstag, 8. November 2011

Howard Jacobson - Die Finkler-Frage

Wenn man gerne Gesellschaftsromane liest und den US-Autor Philip Roth kennt, dann weiß man auch über Howard Jacobson Bescheid. Sollte man annehmen. Doch dem dürfte in den allermeisten Fällen, erstaunlicherweise, nicht so sein. Jacobson ist Brite und hat überwiegend in der Heimat seine Bücher veröffentlicht. Immerhin hat ihm das mit 68 Jahren den Booker-Preis eingebracht. Da Jacobson sich, ebenso wie Roth, der jüdischen Tradition verpflichtet sieht, hält er auch in „Die Finkler-Frage“ daran fest. Und wie!!!

Julian Treslow, ein 50-jähriger Engländer, erfolglos, ehemals bei der BBC beschäftigt, Vater von 2 Söhnen und ansonsten nur gescheiterte Beziehungen im Gepäck, befindet sich eines Abends , nach einem Treffen mit seinen beiden jüdischen Freunden Samuel Finkler und Libor Sevcik, zu Fuß auf dem Nachhauseweg, als er Opfer eines Überfalles wird. Den Raub hat eine Frau verübt, was bei Treslow jedoch vielmehr und eindrucksvoller hängen bleibt. ist seine Wahrnehmung, dass die Täterin ihn mit den Worten „Du Jud“ beschimpft. Jedenfalls bildet er sich das ein. Und das bedeutet für Treslow den Startschuss, im jüdischen Dasein endlich eine Identität zu finden.

Klar, Jacobson ist auch politisch und satirisch, sprachlich gewandt, mit spaßigen, jederzeit wertvollen Dialogen. Wie zu erwarten, machen die beiden „echten“ Juden dem Wunschjuden Treslow schnell klar, dass man als Jude lange und intensiv leiden muss. Das kann man sich nicht selbst aneignen, auch nicht mit dem Erlernen der hebräischen Sprache. Ohnehin ist ordentlich politischer Zunder bei den Beteiligten vorhanden. Für Samuel Finkler gibt es nur Palästina und kein Israel. Finkler stellt schon seit Kindeszeiten für Treslow genau das dar, was er sich unter einem beispielhaften Juden vorstellt.

Mit Hepzibah Weizenbaum begibt sich Treslow auf ein jüdisches Liebesabenteuer, ganz nebenbei eröffnet die Dame in London ein Museum für anglo-jüdische Kultur. Jüdisches Dasein in der heutigen Gesellschaft im heutigen Leben der britischen Hauptstadt. Wie geht das? Auf all das findet Howard Jacobson vielleicht nicht die abschließende Antwort, aber er liefert plausible Hintergründe. Mal nachdenklich, mal sich selbst hochnehmend. Das ganze Buch, von der ersten bis zur letzten Zeile, ist zwar anspruchsvoll, aber es ist ein wahrer Lesegenuss. Mit das beste, was ich in abgelaufenen Sommer lesen durfte. Ein Aspirant auf mein Buch des Jahres 2011.

ISBN-10: 3421045232
ISBN-13: 978-3421045232
436 Seiten (Leseexemplar)
erschienen am 12. September 2011
Deutsche Verlags-Anstalt

Donnerstag, 6. Oktober 2011

Martin Suter - Allmen und der rosa Diamant

Der 1948 in Zürich geborene Schriftsteller Martin Suter hat mit Johann Friedrich von Allmen einen neuen Serien-Protagonisten geschaffen. Ein Detektiv, der mit dem charmanten und witzigen, sehr sympathischen Partner Carlos in das ganz große Geschäft einsteigen will. Das bedeutet „Fälle klären“, und um an die ganz großen Fische, sprich Aufträge, heran zu kommen, muss sich eine Detektei mit dem "international" vielversprechenden Namen „Allmen International“ irgendwie etablieren. Das Problem dabei: „Wer mit den Großen pinkeln möchte, sollte auch das Bein hoch genug bekommen“. Genau das schafft das Duo nämlich noch nicht. Zwar ist Carlos betucht, doch leidet die Company unter dem chronischen Geldmangel von Allmen, bedingt durch eine Lebensweise auf all zu großem Fuß, der er in allen Belangen nicht gerecht wird.

Das könnte sich ändern, als Allmen einen neuen Auftraggeber in einem Büro in London trifft. Es geht um einen wertvollen, rosafarbenen Diamanten. Sieht im Grunde genommen recht easy aus, werden verdächtige Personen doch gleich mit geliefert. Die Aufgabe scheint sich also einzig und allein auf das Finden des der Tat verdächtigen Diebes zu beschränken. Über die beschauliche Schweiz findet der bescheidene Plot, über den noch zu reden ist, seinen weiteren Weg in eine Nobel-Herberge an der Ostseeküste. Ganz nebenbei verlebt Allmen hier satte 14.000 Euro innerhalb weniger Tage. Nicht schlecht für jemanden, der an sich noch nichts auf der Habenseite verbuchen kann.

Ziemlich flott wird dem Leser deutlich, dass der etwaige Plot nicht besonders umfangreich gestrickt ist. Ein relativ stümperhafter Anfängerdetektiv, zwar belesen, aber ansonsten nicht clever, der sich die wichtigsten Tipps bei seinem Assistenten Carlos per Telefon abholt, ein gar nicht mal so unsympathischer Verdächtiger und, wie auch in zahlreichen Filmen zu sehen, gibt es parallel suchende, mehr oder weniger kriminelle Mitbuhler, die sich dem rosa Diamanten annehmen wollen. Da die Story von ihrem Umfang her schmal gehalten ist, drängt sich ohnehin sehr schnell die Frage auf, um was es sich denn nun bei dem gesuchten, wertvollen Stück exakt handelt. Mehr braucht an dieser Stelle nicht verraten zu werden, der Leser erfährt es zügig.

Eines muss man Martin Suter allerdings wirklich lassen: Gekonnt und routiniert, flüssig lesbar, wird der Leser unterhalten. Und das von Beginn bis zum Ende. Man rätselt nicht mit, folgt aber der Handlung stets interessiert und wachsam. Dies ist der zweite Teil der neuen Suter „Allmen-Serie“ und für einen unterhaltsamen Lesegenuss kann man sich getrost schon auf Teil drei freuen. Einzig: Für diesen wirklich schmalen Schmöker erscheint mir der veranschlagte Buchpreis unangemessen hoch. Ansonsten gute Wertung, weil einem die Figuren ans Herz wachsen können!

ISBN-10: 3257067992
ISBN-13: 978-3257067996
221 Seiten
erschienen am 28. Juni 2011
Diogenes Verlag

Sonntag, 18. September 2011

Friedrich Ani - Süden

Friedrich Ani, 1959 in Kochel/See geboren, ist ein Krimiautor, der die Großstadt liebt. So gesehen passt die von ihm erfundene Romanfigur Tabor Süden ins Leben. Tabor Süden, der in Taging aufgewachsen ist, sein Abitur gerade so geschafft hat und der, um dem Wehrdienst zu entfliehen, zur Polizei ging. Nach seiner Streifenzeit landete der Protagonist zunächst bei der Münchener Mordkommission, bevor er schließlich beim Kommissariat für Vermisstenfälle seinen Dienst versah. Das Wort „schließlich“ ist im Fall des neuen Romans von Friedrich Ani wörtlich zu nehmen, denn zum einen dauerte es sieben Jahre, bis es einen neuen Süden-Fall gab, zum anderen hatte sich die Hauptperson im Roman vor sieben Jahren freiwillig dem Dienst entsagt und war, man höre und staune, als gestandener Bayer in die Karnevalstadt Köln am Rhein gezogen. Und ganz ehrlich: Wenn sich ein bayerischer Kriminalbeamter freiwillig ins Preußenland begibt, dann ist es auch nicht absurd, dass sich ein gestandener Wirt aus einem geschichtsträchtigen Stadtteil der bayerischen Landeshauptstadt von einem Tag auf den anderen aus dem Staub macht, seine ratlose Frau zurück lässt und sich etliche, ehemalige Stammgäste nicht zusammen reimen können, warum und wieso der Inhaber der Gasträume plötzlich nicht mehr zugegen ist, geschweige denn, dass diese eine Vorstellung davon haben, wo sich der Gesuchte aufhalten könnte.

In Köln erhält Tabor Süden zwei Jahre nach dem Verschwinden von Raimund Zacherl einen seltsamen Anruf von seinem Vater, den er als Jugendlicher zuletzt gesehen und gesprochen hat. Denn bevor die beiden einen Treff- und Zeitpunkt verabreden können, ist die Leitung gekappt. Also begibt sich Süden in seine ehemalige Heimat, um seinen Vater im Großstadtdschungel zu finden. Und um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, dockt er als Freischaffender bei einer Detektei an und wird mit dem Vermisstenfall konfrontiert, den die Polizei schon lange zu den Akten gelegt hat.

Ani beschreibt mit fesselnden Dialogen die Wesen der täglich wiederkehrenden Stammgäste, zeigt den Unterschied zwischen hoheitlichen Handeln und dem eines „privaten“ Dienstleistungsgewerbes auf, da Süden als „schlichter“ Detektiv über keinerlei staatliche Befugnisse mehr verfügt. Im Zuge der Ermittlungen trifft Süden auf eine überforderte, allein erziehende Mutter, während der Vater dem Alkohol zutiefst verbunden ist. In teils lyrischen Wort- und Satzgebilden liest sich dieser Roman leicht und verständlich, ein ums andere Mal bringt uns der Autor den bayerischen Dialekt näher, so wie es für sich einen anständigen München-Krimi gehört, und lässt uns am Gewohnsheitstratsch des bayerischen "Boatzen-Gängers" teilhaben. Man braucht keine Toten in einem Roman, um Spannung zu erzeugen, denn Ani zieht die Story gekonnt so auf, dass der Leser ohne jeglichen Gewaltorgien genussvoll von Seite zu Seite voran schreitet, um so das vermeintliche Schicksal des vermissten Raimund Zacherl zu erfahren. Einzig völlig aus der Realität heraus geggriffen ist die Tatsache, dass es kaum Menschen gibt, die tatsächlich von einem nächtlichen Spaziergang zum Zigarettenautomaten nicht wieder auftauchen. Das sind Mythen und nichts anderes. Tolles Buch!

ISBN-10: 3426199076
ISBN-13: 978-3426199077
368 Seiten
erschienen am 14. März 2011
Droemer Verlag

Freitag, 22. Juli 2011

Philip Roth - Nemesis

Im Sommer 1944 plagt die Bürger von Newark im Staate New Jersey eine schier unerträgliche Hitze. Es sind Ferien, und diejenigen, die es sich leisten können, verbringen die Zeit an der See. Die anderen bleiben zu Hause. Eugene „Bucky“ Cantor“ ist ein junger Sportlehrer, der wegen seiner Sehschwäche nicht in den Krieg ziehen darf. Stattdessen beaufsichtigt er die spielenden Kinder und Jugendlichen auf dem heimischen Sportplatz im jüdischen Stadtteil Weequalic. In der Ferne, an der Front im Zweiten Weltkrieg, sterben Soldaten, und in Newark greift eine Polio-Epidemie um sich, die mit zunehmender Intensität die ersten Todesfälle in der Heimat fordert. Betroffen davon sind auch Jugendliche, über die „Bucky „Cantor die Aufsicht führt... 

In diesem Buch beweist Philip Roth erneut, dass er zu den wichtigsten Gegenwartsautoren aus den USA gehört. Er zeichnet mit „Bucky“ Cantor einen Charakter, der die Grundlage für alle weiteren und wichtigen Aussagen in diesem Buch bildet. Aufgewachsen bei seinen Großeltern, weil die Mutter bei der Geburt verstarb und der Vater wegen Geldunterschlagung die Familie verlassen musste, entwickelt er ein regelgerechtes Pflichtbewusstsein. Er kommt aus recht ärmlichen Verhältnissen und träumt, wie viele andere Menschen auch, durch redliche Arbeit von einem eigenen Haus mit Garten. Der Autor zeigt allerdings auf, dass ein übertriebenes Pflichtbewusstsein einen Menschen durchaus schwächen kann. Ein Gewissen zu haben ist wunderbar, allerdings nur so lange es nicht dazu führt, dass man sich für etwas verantwortlich macht, was man keinesfalls zu verantworten hat. 

Und es steht natürlich die Frage im Raum, auch von den Hinterbliebenen von Polio-Opfern, warum und wieso gerade dieser Junge oder dieses Mädchen, warum ausgerechnet unser Sohn oder unsere Tochter? Gibt es im Leben Gerechtigkeit? Wohl eher nicht, so deute ich Philip Roth‘ seine Antwort im Roman. Der Autor geht sogar noch einen Schritt weiter. Es geht um das persönliche Verhältnis zu Gott. Wie kann Gott es zulassen, dass so eine, damals noch unbezwingbare Krankheit über die Menschen herfällt und seine Opfer fordert? Ist die eigene Bildung von beinahe Hassgefühlen gegenüber Gott mit dem Gewissen noch vereinbar und ist es zulässig, Gott für das Unheil verantwortlich zu machen? Was „Bucky“ Cantor über weite Strecken in „Nemesis“ in seinem Umfeld erlebt und verarbeitet, weitet sich gegen Ende zu einer persönlichen Tragödie für den Protagonisten aus. Eine intelligente nochmalige Zusammenfassung der aufgezeigten Problematiken über persönliches Schicksal und den Fragen nach Gewissen, Gerechtigkeit und dem Verhältnis zu Gott.  Hätte „Bucky“ Cantor wegen seines Verantwortungsbewusstseins anders handeln müssen?

Die Sprache von Roth ist in diesem Roman sanft und weich, und dennoch sehr eindringlich. Niemals überanstrengend und vollkommen strukturiert werden die Problemfelder aufgezeigt und auf beeindruckende Art und Weise in die Geschichte eingebunden. Die Polio mag in den zivilisierten Industriestaaten keine Rolle mehr spielen, der Weltkrieg ist längst beendet und die Spuren weitestgehend beseitigt, alles andere in diesem Roman ist aktueller denn je. In einer Welt, in der sich täglich Tragödien ereignen, Menschen dabei ums Leben kommen oder unerträgliches Leid erfahren. Von denen, die mit ihrem persönlichen Schicksal hadern gar nicht zu reden. Ist der eigene Zorn gerecht? Weltliteratur!

ISBN-10: 3446236422
ISBN-13: 978-3446236424
220 Seiten
erschienen am 07. Februar 2011
Carl Hanser Verlag

Massimo Carlotto - Banditenliebe

Massimo Carlotto ist dazu prädestiniert, Einblicke in den italienischen Untergrund zu gewähren, stand er doch selbst im Mittelpunkt eines außergewöhnlichen Gerichtsfalles, in dessen Verlauf er sich fünf Jahre auf der Flucht und anschließend sechs Jahre in Haft befand. Seit 1996 schreibt Massimo Carlotto Romane und hat in seinen Büchern den Privatdetektiv Marco Buratti, alias Alligator, ohne Lizenz für seine Tätigkeit, ein Bluesfan und dem Calvados frönend, ins Leben gerufen. Buratti, selbst mit Knasterfahrung, ist alleine nicht besonders professionell (beschattet er doch vorrangig fremdgehende Ehefrauen), jedoch kommt, zusammen mit seinen beiden Freunden Max la Memoria und Beniamino Rossini, ein gehöriges Maß an Wissen über die Verbrechenswirklichkeit in Italien zusammen. 

Aus dem Rechtsmedizinischen Institut der Universität in Padua werden 30 Kilo Heroin, 10 Kilogramm Kokain, dazu Amphetamine, Tabletten und Anabolika entwendet, das Ganze ohne jegliche Aufbruchspuren. Zwei Jahre später wird Rossinis Freundin Sylvie entführt, in ihrem Fahrzeug findet man einen goldenen Ring, als ein Zeichen der Gangsterhöflichkeit. Genau hier findet der Leser den Einstieg in „Banditendiebe“, denn wir erfahren, wie es dazu kam, dass Buratti und seine Freunde dazu gedrängt wurden, die Drogenbeute ausfindig zu machen und was hinter der Entführung von Sylvie steckt. Erstaunlich schnell legt die Polizei den Fall zu den Akten, doch die drei Protagonisten treiben sich in der Szene rum, treffen Spitzel, um an Informationen zu gelangen und bestechen im weiteren Verlauf sogar angesehene Rechtsanwälte, um so Licht ins Dunkel zu bringen. Dabei ergibt sich ein dichtes Geflecht an Zusammenhängen, dessen Weg bis in die Spitze der kosovarischen Mafia führt, die inzwischen, in Konkurrenz zu den ortsansässigen „Familien“, den Untergrund mitbestimmt. 

So weit, so gut. Man könnte meinen, ein typischer Mafiakrimi, recht ordentlich ausgedacht und spannend niedergeschrieben. Das ist es auch, aber Massimo Carlotto bietet uns wesentlich mehr, was diesen Roman sehr lesenswert macht. Zum einen wird deutlich, dass sich durch ein geöffnetes Europa die Strukturen der Mafia grenzüberschreitend ausbreiten. Insbesondere der Nordosten von Italien gerät ins Visier des Autors, zahlen gerade dort die ansässigen Konzerne wenig bis gar keine Steuern, befinden sich in dieser Region viele Callcenter, in denen Frauen zu Dumpinglöhnen arbeiten, so das ehrlich schaffende Bürgerinnen und Bürger an den Rand der Gesellschaft gedrückt werden. Polizisten lassen sich schmieren, man findet eine Vielzahl an Informanten und Restaurantbesitzer zahlen Schutzgeld, um unbehelligt von Mafia und der Polizei ihr Geschäft betreiben zu können. Es bilden sich zunehmend private Patrouillen, um die ständig steigende Kriminalität wenigsten ein bisschen zu senken. Dies alles klagt Carlotto, wohl zu Recht, in diesem Roman an. Noch dazu geht es, neben der äußerst unterhaltsamen Story, auch um die Beziehungen zwischen Männer und Frauen, die Banditenliebe. Beziehungen, die das Handeln bestimmen!

Dieser kurzweilige Krimi trifft es so ziemlich mit jeder Seite auf den Punkt. Trotz der lediglich 187 Seiten sollte man dem Geschehen jedoch ausreichende Aufmerksamkeit schenken, denn gerade durch die vielen teilnehmenden Personen kann man unter Umständen den roten Faden verlieren. Man achte besonders auf die Überschriften der jeweiligen Kapitel, um die Zeitsprünge zu verinnerlichen. Wenn das gelingt, dann erwartet den interessierten Bücherfreund mit „Banditenliebe“ ein überzeugender, lebendiger und unterhaltsamer Krimi aus dem kriminellen, italienischen Milieu, ganz ohne ermittelnde Polizisten, dafür aber mit drei Freunden, die uns, obwohl nicht immer sauber, ans Herzen wachsen und mit einem Ende, welches eine Fortsetzung geradezu herauf beschwört! 

ISBN-10: 3608502092
ISBN-13: 978-3608502091
187 Seiten
erschienen am 22. Juli 2011
Tropen bei Klett-Cotta

Dienstag, 5. Juli 2011

Sebastian Fitzek - Der Augensammler

Wenn man fünf sehr erfolgreiche Psychothriller geschrieben hat und dadurch als einer der besten und anerkanntesten Autoren in diesem Metier in Deutschland gilt, dann kann man sich möglicherweise einen sachdienlichen, aber überheblich wirkenden Hinweis noch vor Beginn der Story erlauben. Das gilt selbstverständlich nur dann, wenn der anschließende Roman erneut die erwartete Klasse mit sich bringt, wobei es eigentlich normal ist, dass ein Werk in den Augen des Lesers über dem anderen Werk steht oder umgekehrt. Niemand schreibt immer auf gleichbleibendem Niveau und trifft immer alle Geschmäcker. Ein Serienkiller ermordet die Mutter, entführt die dazu gehörigen Kinder und gibt dem Vater anschließend exakt 45 Stunden und 7 Minuten Zeit, um diese zu finden. Für den Täter ist dies das älteste Spiel der Welt, Verstecken, allerdings nach seinen Regeln. Bisher wurden alle Kinder tot aufgefunden, ertränkt. Und es fehlte ihnen ein Auge. Hört sich grausam, spannend, aber nicht umwerfend originell an. Muss es ja auch nicht sein, wenn Spannung, Geschichte und Geschwindigkeit stimmen. 

Sebastian Fitzeks sechster Roman „Der Augensammler“ beginnt im gewohnt guten und atemberaubenden Stil. Der Protagonist erschießt in seiner Eigenschaft als Polizist und Verhandlungsführer seiner Behörde in Berlin eine Frau, die in ihrem Wahn ein Baby von einer Brücke werfen will. Daraus ergeben sich posttraumatische Erlebnisse, Alexander Zorbach (so sein Name) wird aus dem Dienst entfernt, verliert seine Familie und arbeitet nun als Reporter für Polizeiangelegenheiten bei  der ansässigen und renommierten Tagespresse. Logischerweise ist er dabei nach wie vor dicht am Geschehen und somit auch in die aktuellen Fälle involviert. Es dauert nicht lange, da wird er selbst zum Hauptverdächtigen, trifft auf eine blinde Physiotherapeutin (Alina Gregoriev), die hellseherische Fähigkeiten besitzt und in die Vergangenheit blicken kann, wodurch sich Hinweise zur Klärung des Falles ergeben.

Entschuldigung, das ist soweit an den Haaren herbei gezogen und vollkommen unrealistisch, dass man eigentlich bereits an dieser Stelle dazu geneigt ist, das Buch zu zuklappen und den Roman abzuhaken. Da nutzen gekonnt falsch gelegte Fährten und spannungsgeladene, kurze Kapitel kaum noch etwas. Die übertrieben vielen, kursiv geschriebenen Gedankengänge mögen für manchen Leser von Bedeutung sein, für mich sind sie weitestgehend überflüssig und auch nervig. Zudem fällt es mir schwer drüber hinweg zusehen, dass die Handlung im deutschen Berlin spielt, was ich eigentlich sehr gut finde, aber was haben da die klischeebehafteten Handlungen zu suchen, die man eigentlich nur in amerikanischen Wildwest-Thrillern vermuten würde? Eine schnelle Nummer zwischen sexuell ausgehungerten, obwohl das Ultimatum unmittelbar abzulaufen droht und ein übel folternder Kripobeamter, wie man ihn ansonsten in drittklassigen US-Krimis findet, sprechen nicht gerade für ein Meisterwerk der Unterhaltung, schon gar nicht für einen guten Psychothriller. Und letztlich finde ich diesen Fitzek auch sprachlich bei weitem nicht so geschliffen wie seine bisherigen Romane.

Vielleicht kann sich der Autor wegen seiner Idee, die Seitenzahlen und die Kapitel rückwärts zu zählen, in die Fortsetzung dieser Geschichte retten, vielleicht ist genau dies das Gimmick, wodurch Fans dieses Buch als Ausrutscher verzeihen und sich schon auf den neuen Roman von Sebastian Fitzek freuen. „Der Augensammler“ hat auf jeden Fall deutliche Schwächen und ist nicht mehr, als einer von vielen, nichts sagenden Thrillern, den ich so nicht erwartet hätte. Eine Enttäuschung!

ISBN-10: 3426503751
ISBN-13: 978-3426503751
439 Seiten
erschienen am 01. Juni 2011 als Taschenbuch im Knaur TB Verlag
erschienen am 01. Juni 2010 als gebundene Ausgabe im Droemer Verlag

Samstag, 25. Juni 2011

Herta Müller - Atemschaukel

Wenn für Romane der Nobelpreis für Literatur vergeben wird, dann bin ich eigentlich immer skeptisch. Zwar sind die Kriterien für die Vergabe definiert, aber trotzdem erschließen sich mir die entscheidenden Aspekte, die zur Vergabe geführt haben, nur selten. Wenn eine deutsche Schriftstellerin diesen Preis bekommt (2009), werde ich neugierig und in diesem Fall war das Buch für mich ein persönlicher Gewinn. Herta Müller stammt ursprünglich aus Rumänien und sie hat ein wichtiges Thema aufgegriffen. Nüchtern betrachtet lautet es wie folgt:

Ich: Leopold Auberg, 17 Jahre alt, schwul und komme aus Hermannstadt. 
Lagername: Nowo-Gorlowka in der Ukraine
Bataillon: Nr. 1009
Arbeitsnummer: 756
Mein Problem: Hunger, ähm Atemschaukel

Dieses Buch, mit sprachlicher Gewalt, erinnert daran, dass es im Jahr 1945 eine groß angelegte und systematische Deportation von Rumäniendeutschen in russische Arbeitslager gab. Alle im Alter von 17 bis 45 Jahren sollten in Arbeitslagern untergebracht werden und die Zerstörungen in der Sowjetunion wieder aufbauen. Und selbst, wenn man früh weiß, dass Leo Auberg die Strapazen überlebt, bangt man die gesamte Buchlänge mit ihm. In den Kapiteln erinnert sich der Protagonist seiner selbst und zahlreicher Mitinsassen. Dabei stellt  er auf ergreifende Art und Weise Schicksale dar. Im Lager stirbt man im Winter an der Kälte und im Sommer an den Epidemien. Doch das Schlimmste, was einem passieren kann, ist wohl der Hunger. Atemschaukel, das ist Hunger. Einzige wirkliche Nahrung: Die Erinnerung an Sätze wie die der Großmutter „Ich weiß, Du kommst wieder“.

Und wenn jemand, obwohl er unterernährt ist, arbeiten will (muss), weil es ihn friert, dann zeigt dies ein ungeahntes Ausmaß an Leid, welches die Menschen ertragen mussten. Das man daraus lernt, ist klar. Dieser Roman beinhaltet Aussagen, die mit unbeschreiblicher Wucht daher kommen. Wenn man als Mensch in Not ist und ums Überleben kämpft, dann kann es soweit kommen, dass man dem jeweiligen Mitleidenden nichts mehr abgibt, weil es für diesen keinen Sinn mehr macht. Zumeist sind es Menschen, die auf Grund des Hungers unmittelbar vor dem Sterben stehen. Es sind nur noch Kreaturen, die ein Stück Holz mit einem Stück Brot verwechseln. Und noch etwas: Wenn man die Kleidung eines Toten benötigt, wenn man ein aufgespartes Stück Brot eines Toten nimmt, dann ist der Tot sogar ein Gewinn! Wobei die Betrachtungsweise einseitig ist.

Der Roman „Atemschaukel“ beschreibt den Kampf des Einzelnen, nicht den Zusammenhalt im Lager. Es ist die Hoffnung, selbst nicht der/die nächste zu sein. So relevant der Sachverhalt ist, so überzeugend ist die verwendete Sprache der Autorin. Mit jeder gelesenen Seite wird dem Leser klar, dass hier große Schule verabreicht wird. Weltliteratur, für uns Deutsche sowieso! Ein Buch, welches Herta Müller ursprünglich mit Oskar Pastior gemeinsam schreiben wollte, der allerdings zuvor verstarb. Die Geschichte beruht auf Teilen von Erinnerungen des Lyrikers Pastior. 

ISBN-10: 3446233911
ISBN-13: 978-3446233911
304 Seiten
erschienen am 17. August 2009
Carl Hanser Verlag GmbH

Donnerstag, 23. Juni 2011

Arno Geiger - Der alte König in seinem Exil

Es stand schon lange fest, dass ich die Geschichte des österreichischen Schriftstellers Arno Geiger und seinem Vater August, der im Alter an Demenz erkrankt ist, lesen wollte. Und ich habe es nicht bereut. Was das Buch allerdings so lange auf der Spiegel-Bestsellerliste „Belletristik“ zu suchen hat, wird ein Geheimnis bleiben, denn es handelt sich ohne Frage um ein Sachbuch, eine Autobiografie.

Das Arno Geiger einen tollen Schreibstil pflegt, war mir seit „Alles über Sally“ klar. In „Der alte König in seinem Exil“ kommt noch ein kleiner Schuss an Emotion hinzu, berichtet der Autor aus seinem intimen Familienleben. Der Vater, der 26 Jahre im Gemeindeamt Wolfurt, Vorarlberg in Österreich, gearbeitet hat, kennt sich plötzlich im eigenen Haus, welches er vor 50 Jahren selbst geschaffen hat, nicht mehr aus. Die Ursache: Alzheimer Krankheit. Wir werden Zeuge, wie sich das Verhalten von August Geiger in über 10 Jahren andauernder Krankheit verändert und vor allen Dingen erfahren wir, welche enormen Auswirkungen diese auf das persönliche Umfeld, hier in erster Linie die Familie, hat. 

Arno Geiger beschreibt rückblickend und detailliert, wie er sich im Zuge des Erwachsenwerdens immer mehr von seinem Vater entfernte, und bedingt durch die Krankheit eine neue Freundschaft zu ihm schloss. Hochs und Tiefs bestimmen die lange währende Krankheit, doch das Wesentliche, was man aus diesem Tatsachenbericht ziehen kann, ist die Erkenntnis, dass der Umgang mit einem an Demenz erkrankten Menschen den Verstand schärft, und das Einfühlungsvermögen sowie Phantasie gefordert sind. Wer die Betreuung erfolgreich absolviert, der wird nicht zu Unrecht von Felix Hartlaub als ein „staatlich geprüfter Seiltänzer“ bezeichnet (Zitat s. S. 119). Der Vater lebt in seinem Exil, das heißt in seiner eigenen ungeordneten Welt, am liebsten an einem Ort, an dem er sich geborgen fühlt. In schwierigen Dialogen mit dem Erkrankten muss man sich daran erinnern, dass hier nicht mehr der Mensch, den man kennt, sondern die Krankheit mit einem spricht. Und genau dies führt sehr oft dazu, dass Betreuende schnell an ihre Belastungsgrenze geraten.

Insbesondere die aufgezeichneten Konversationen bringen ein bisschen Komik mit sich. Die Antwort hierfür liefert Arno Geiger auf S. 103 selbst. Wenn die Schwester die Zeilen des Skriptes liest, muss sie schmunzeln, merkt aber im selben Moment an, dass die Wirklichkeit ein Horror ist. Und noch eine mögliche Antwort liefert Arno Geiger in Bezug auf eine Entscheidung, die leider viele Angehörige früher oder später treffen müssen: Wenn eine Betreuung auf einem notwendigen Niveau nicht mehr möglich ist, und man die Entscheidung treffen muss, den Patienten in ein Pflegeheim zu geben, dann kann das einer persönlichen Niederlage gleichen. Und schließlich: Es ist die Aufgabe der Eltern, den eigenen Kindern etwas beizubringen. Das Letzte, was sie einem zeigen, ist, wie es ist, wenn man alt und krank ist.

„Der alte König in seinem Exil“ ist sicherlich berührend, interessant sowieso, aber es ist auch eine Art Lehrstück für unsere immer schneller, und daher auch oberflächlicher werdende Gesellschaft. Demenz ist bis dato nicht heilbar, sondern bleibt bis auf weiteres eine schwere Belastung. Als Quintessenz aus diesem Buch ist die Demenz aber auch eine Verpflichtung, sich daran zu erinnern, wem man viel zu verdanken hat. Ein trauriger, aber auch wichtiger Abschnitt aus einer Vater-Sohn-Beziehung!

ISBN-10: 9783446236349
ISBN-13: 978-3446236349
189 Seiten
erschienen am 07. Februar 2011
Carl Hanser Verlag GmbH

Am 29. April 2011 verstarb mein Patenonkel, der an schwerer Altersdemenz erkrankt war. Ruhe in Frieden!

Montag, 20. Juni 2011

Donnerstag, 16. Juni 2011

Kerstin Ekman - Tagebuch eines Mörders

Kerstin Ekman, ohne Frage eine der bedeutendsten schwedischen Autoren, entführt den Leser in das Stockholm zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Eine Zeit, in der man mit der Konfirmation als erwachsen galt und in der die Psychiatrie noch „als moderne Modewissenschaft“ abgetan wurde. Wenn Frauen sich auf Stellen bewarben und somit dem männlichen Pendant diese streitig machten, so war „dies ein Ausdruck schlecht verwalteter Staatsfinanzen“. Die Tatsache, dass der schwedische Schriftsteller Hjalmar Söderberg für seinen Roman „Dr. Glas“ aus dem Jahr 1905 heftigste Kritiken hatte einstecken müssen, greift Kerstin Ekman hier als eine Art Einstieg und vor allen Dingen tatsächlichen Hintergrund auf (s. auch Kerstin Ekmans Nachbemerkung ab S. 240).

Pontus Revinge ist Arzt, ein mehr oder weniger schlechter Arzt, den sein Selbstbild trügt. Revinges niedergeschriebene Notizen sind das Tagebuch eines Mörders. Er trifft bei einem (erfundenen) Treffen mit dem Schriftsteller Hjalmar Söderberg diesem gegenüber die Aussage, dass eine Zyankali-Kapsel die Möglichkeit des perfekten, nicht aufklärbaren Mordes bietet. Und es gilt „Leben ist Handlung“. Und so tötet er selbst seinen Arbeitgeber mittels einer Zyankali-Kapsel, heiratet dessen Frau und Witwe und bekommt im weiteren Verlauf eine unüberwindbare, fast panische Angst vor einer Obduktion des Getöteten. Gepeinigt von dieser Angst ist Revinge fortan mit steigender Intensität und stetig zunehmenden Angst auf der Suche nach Moral und einer Antwort auf die Frage nach der Schuld für eigenes Handeln, denn er beging seine Tat mehr oder weniger „unabsichtlich“ und er ist sich nicht sicher, ob das, „was geschah, wert ist, Mord genannt zu werden“. Hinzu kommt, dass Pontus Revinge der festen Überzeugung ist, dass ihm Hjalmar Söderberg für seinen Tipp für dessen Roman  zu Dank verpflichtet ist. Es scheint absurd, wie seine spätere Erwartungshaltung ist. 

Dieses Buch ist AUCH ein Krimi und es bleibt bis zuletzt offen, ob dieser Fall geklärt wird oder nicht. Doch die Aufzeichnungen von Revinge sind mehr als das. Sie sind ein Psychogramm eines Menschen, der nach vielem strebt, kaum etwas auf dem für unser heutiges Verständnis gängigen Weg erreicht, der ein gestörtes Verhältnis zu erwachsenen Frauen hat, die Witwentochter jedoch liebt. „Eine Frau ist nichts anderes als eine blutende Wunde. Blutet diese nicht mehr, ist die Frau geschlechtslos“, so die brutale Sichtweise über Frauen und somit für den Leser in diesem Roman das Weltbild des Protagonisten von der weiblichen Zunft. Kerstin Ekman erleichtert es uns etwas, dies zu erkennen, da Revinge später mit der jungen, aber modernen Nachwuchsärztin Ida Tjenning konfrontiert wird, die ihm zwar auf die Schliche kommt, die Tat jedoch nicht beweisen kann.

Fazit: Die altmodische, jedoch nicht schwierige Sprache erfordert Aufmerksamkeit vom Leser. Und momentan habe ich das Gefühl, dass ich das Buch noch mindestens ein zweites Mal lesen muss und auch will, um noch mehr zu verstehen, was ausgedrückt und beschrieben werden sollte. Dieser Roman hat mich sehr beeindruckt. Dies ist ein großartiges Buch. Aber es ist für MICH auch ein literarisches Schwergewicht. Große und anspruchsvolle Literatur!

ISBN-10: 9783492054270
ISBN-13: 978-3492054270
erschienen im Februar 2011
256 Seiten
Piper Verlag

Sonntag, 12. Juni 2011

Antonia Michaelis - Der Märchenerzähler



Als Anna zum ersten Mal Abel Tannatek begegnet, da ist die Welt weitestgehend in Ordnung. Sie ist sich sicher, dass sie unmittelbar nach dem Abitur nach England möchte, um dort zu studieren. Doch zuerst muss das Abi bestanden werden. Anna kommt aus gutem Haus, ohne Sorgen und Geldnöte. In der Schule trifft sie auf Abel, einem Außenseiter, genannt der polnische Kurzwarenhändler, weil er offenbar Drogen vertickt, stets zu spät in den Unterricht kommt, die Musik von Leonard Cohen hört, eine schwarze Mütze und ein T-Shirt mit der Aufschrift der Bösen Onkelz trägt und in einem Plattenbau in Greifswald wohnt. Schnell stellt sich heraus, dass der Junge einen vollkommen eigenen Weg geht und sich trotzdem rührend um seine kleine Schwester Micha kümmert, weil die Mutter Michelle für längere Zeit verreist ist und der Vater nicht mehr zu Hause wohnt. Anna und Abel können unterschiedlicher kaum sein!

Abel erzählt seiner Schwester ein Märchen: Von der Klippenkönigin, die sich gerade noch vor dem Untergang ihrer Insel retten kann und sich fortan, in Begleitung ständig neuer Figuren auf einem Schiff auf der Flucht befindet, um das rettende Festland zu erreichen.

Anna und Abel kommen sich näher und es dauert nicht lange, dass Anna dem Märchenerzähler und seiner Geschichte beiwohnen darf. Und ebenso schnell wird klar, dass die Übergänge des Märchens und die der Wirklichkeit fließend sind. Nur so viel sei noch verraten: Es sterben Menschen und es ist für den Leser überhaupt nicht ersichtlich, wer denn nun der Täter ist. Motive gibt es genügend, und auch der Verdacht gegen einzelne Personen lässt den einen oder anderen Schluss zu.

Was sich hier entwickelt, ist spannend und herzergreifend zugleich. In einem wirklich mutig leichten Stil empfinde ich Antonia Michaelis‘ Erzählkunst auffordernd und einladend, möglichst zügig dieser großartigen Story beizuwohnen. Man merkt, dass die Autorin eigentlich noch „Eine von dieser Welt ist“. Nie den Haupthandlungszweig aus den Augen verlierend beschreibt sie die tatsächliche Welt unserer Schüler und Schülerinnen. Da werden Hakenkreuze auf Schilder vor der Grundschule gesprüht und gestohlene Fahrräder nach dem unbefugten Gebrauch irgendwo auf gehangen, dazu lungern Betrunkene auf einem Netto-Parkplatz herum. Sie vermittelt Einsichten „Wenn man sich ein Leben lang kennt, kann man einander auch im Dunkeln sehen“ sowie „arm bleibt arm und reich bleibt reich“. Und es steht die Frage im Raum „was interessiert das Sozialamt wirklich, wenn es um die Vergabe eines etwaigen Sorgerechts geht?“. Sie macht Hoffnung, dass es sich bei der heutigen Jugend nicht um die sog. „Generation Doof“ handelt, denn die gezeigten Charaktere diskutieren über den Einsatz der deutschen Soldaten in Afghanistan, über den kontrollierten Beschuss von Wild in unseren Wäldern und sehen die Massentierhaltung kritisch.

Dieses Buch ist anders, als man es wahrscheinlich gewohnt ist. Es gelingt der Autorin Märchen und Realität miteinander zu verweben. Und vergehen die ersten ca. 300 Seiten schon recht ansprechend, so nimmt die Geschichte auf den weiteren 150 Seiten nochmals richtig Fahrt auf, mit einem Ende, welches selbst einen hartgesottenen Leser in Sachen Emotionalität auf die Probe stellt. Ich möchte Antonia Michaelis noch nicht zu sehr hoch leben lassen, doch dieser Roman lässt mich vermuten, dass sehr großes Potenzial in der Autorin steckt. Ich warte den nächsten Roman ab. Sie hat mit „Der Märchenerzähler“ die Trauben ganz weit nach oben gehängt. Das ist ein großartiger Roman für Jugendliche und Erwachsene.

ISBN-10: 9783789142895
ISBN-13: 978-3789142895
erschienen im Februar 2011
446 Seiten
Oetinger Verlag

Donnerstag, 9. Juni 2011

Patrick Süskind - Das Parfum _ Die Geschichte eines Mörders





Wie sieht ein Kindsmord in Paris in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus? Jean Baptiste Grenouille kommt an einem Fischstand zur Welt, seine Mutter trennt die Nabelschnur und lässt den Säugling zwischen den Fischresten unterhalb des Tisches liegen. Das Kind trägt keinen Geruch an sich selbst, doch werden Düfte und Gerüche das weitere Leben bestimmen. Der ausgeprägte Geruchssinn des Protagonisten und das Streben zum größten und erfolgreichsten Parfumeur Frankreichs aufzusteigen, kostet Menschen das Leben und zeigt auf, wie ein Außenseiter in der Gesellschaft zu Ruhm und Ehre kommen kann, weil er mit seinem Schaffen andere bedient, die ausschließlich auf sich selbst bedacht und dazu bereit sind, zum eigenen Wohle über sog. Leichen zu gehen.

Der Autor lässt uns am Leben eines Außenseiters teilhaben, einem Menschen mit Fehlern, die sich aus den außergewöhnlichen Fähigkeiten des Geruchssinns ergeben. Ein von den Mitmenschen kaum feststellbarer Ehrgeiz und ein über das gewöhnliche Maß hinausgehendes Durchhaltevermögen treiben Grenouille an, seine Ziele zu erreichen. Wir tauchen ein in ein Paris, in dem Sklaverei von Menschen einer anderen Klasse als sozial adäquat galt und in dem sich der Status eines Menschen in der Gesellschaft aus allem ergibt, nur nicht aus eigener und ehrlicher Schaffenskraft. Sich mit fremden Federn zu schmücken ist nicht nur en vogue, sondern für viele die einzige Möglichkeit, sich Gehör und Anerkennung zu verschaffen.

Dieses Buch mag in weiten Teilen gesellschaftskritisch erscheinen, aber ich empfinde es nicht als Abrechnung mit der französischen Hauptstadt und den damals dort lebenden Menschen. Und noch weniger sehe ich „Das Parfum“ als einen historischen Roman. Die Gegebenheiten sind der notwendige Rahmen, um das kurze Leben von Grenouille auf beeindruckende Art und Weise darzustellen. Wie viele davon Fiktion sind? Keine Ahnung, aber hier werden auch Grenzen aufgezeigt, bei denen sich beim Überschreiten nachvollziehbar erklärt, warum jemand den Rückzug antritt, um sich in Einsamkeit und Abgeschiedenheit selbst zu reinigen. Das Parfum und der Geruchssinn, exemplarisch als Maske, hinter der sich eigentlich eine menschliche Tragödie abspielt, weil es anderweitig nicht möglich wäre, Anerkennung in der Gesellschaft zu finden.

Sprachlich kann ich diesen Roman nicht einordnen, es ist ein Spagat zwischen der Moderne des 20. Jahrhunderts (1985) und antiquarischen Sprachfetzen, insbesondere von Grenouille, aber auch von dem gemeinen Volk in Paris des 18. Jahrhunderts. Irgendwie erscheinen mir manche Begriffe mehr auf die Handlung zugeschnitten, als das die verwendete Sprache ein wirkliches Abbild dessen ist, wie man sich zur damaligen Zeit wirklich artikuliert hatte. 
Ich mache mir für gewöhnlich wenige Gedanken über Cover. Aber die Tatsache, dass sich auf der Vorderseite ein Ausschnitt aus dem Gemälde „Jupiter und Antiope“ von Antoine Watteau befindet, ist durchaus erwähnenswert, gilt die nackte Achsel der schlafenden Antiope doch als Sinnbild der duftenden Verführung (Quelle: wikipedia).

Fazit: Trüge jeder Krimi, denn immerhin beinhaltet dieser Roman den Zusatz „Die Geschichte eines Mörders“, so viele wichtige Aussagen in sich, dann wäre „Das Parfum“ von Patrick Süskind nichts Besonderes. So aber ist dieser Roman mehr als ein Krimi und Gesellschaftsroman. Es ist ein Stück Weltliteratur geworden!

ISBN-10: 9783257065404
ISBN-13: 978-3257065404
erstmals erschienen 1985
319 Seiten
Diogenes Verlag