Samstag, 25. Juni 2011

Herta Müller - Atemschaukel

Wenn für Romane der Nobelpreis für Literatur vergeben wird, dann bin ich eigentlich immer skeptisch. Zwar sind die Kriterien für die Vergabe definiert, aber trotzdem erschließen sich mir die entscheidenden Aspekte, die zur Vergabe geführt haben, nur selten. Wenn eine deutsche Schriftstellerin diesen Preis bekommt (2009), werde ich neugierig und in diesem Fall war das Buch für mich ein persönlicher Gewinn. Herta Müller stammt ursprünglich aus Rumänien und sie hat ein wichtiges Thema aufgegriffen. Nüchtern betrachtet lautet es wie folgt:

Ich: Leopold Auberg, 17 Jahre alt, schwul und komme aus Hermannstadt. 
Lagername: Nowo-Gorlowka in der Ukraine
Bataillon: Nr. 1009
Arbeitsnummer: 756
Mein Problem: Hunger, ähm Atemschaukel

Dieses Buch, mit sprachlicher Gewalt, erinnert daran, dass es im Jahr 1945 eine groß angelegte und systematische Deportation von Rumäniendeutschen in russische Arbeitslager gab. Alle im Alter von 17 bis 45 Jahren sollten in Arbeitslagern untergebracht werden und die Zerstörungen in der Sowjetunion wieder aufbauen. Und selbst, wenn man früh weiß, dass Leo Auberg die Strapazen überlebt, bangt man die gesamte Buchlänge mit ihm. In den Kapiteln erinnert sich der Protagonist seiner selbst und zahlreicher Mitinsassen. Dabei stellt  er auf ergreifende Art und Weise Schicksale dar. Im Lager stirbt man im Winter an der Kälte und im Sommer an den Epidemien. Doch das Schlimmste, was einem passieren kann, ist wohl der Hunger. Atemschaukel, das ist Hunger. Einzige wirkliche Nahrung: Die Erinnerung an Sätze wie die der Großmutter „Ich weiß, Du kommst wieder“.

Und wenn jemand, obwohl er unterernährt ist, arbeiten will (muss), weil es ihn friert, dann zeigt dies ein ungeahntes Ausmaß an Leid, welches die Menschen ertragen mussten. Das man daraus lernt, ist klar. Dieser Roman beinhaltet Aussagen, die mit unbeschreiblicher Wucht daher kommen. Wenn man als Mensch in Not ist und ums Überleben kämpft, dann kann es soweit kommen, dass man dem jeweiligen Mitleidenden nichts mehr abgibt, weil es für diesen keinen Sinn mehr macht. Zumeist sind es Menschen, die auf Grund des Hungers unmittelbar vor dem Sterben stehen. Es sind nur noch Kreaturen, die ein Stück Holz mit einem Stück Brot verwechseln. Und noch etwas: Wenn man die Kleidung eines Toten benötigt, wenn man ein aufgespartes Stück Brot eines Toten nimmt, dann ist der Tot sogar ein Gewinn! Wobei die Betrachtungsweise einseitig ist.

Der Roman „Atemschaukel“ beschreibt den Kampf des Einzelnen, nicht den Zusammenhalt im Lager. Es ist die Hoffnung, selbst nicht der/die nächste zu sein. So relevant der Sachverhalt ist, so überzeugend ist die verwendete Sprache der Autorin. Mit jeder gelesenen Seite wird dem Leser klar, dass hier große Schule verabreicht wird. Weltliteratur, für uns Deutsche sowieso! Ein Buch, welches Herta Müller ursprünglich mit Oskar Pastior gemeinsam schreiben wollte, der allerdings zuvor verstarb. Die Geschichte beruht auf Teilen von Erinnerungen des Lyrikers Pastior. 

ISBN-10: 3446233911
ISBN-13: 978-3446233911
304 Seiten
erschienen am 17. August 2009
Carl Hanser Verlag GmbH

4 Kommentare:

  1. Eine wunderbare und aussagekräftige Rezension.
    Das Buch steht schon seit langem auf meiner Leseliste und schafft es immer wieder abzurutschen. Lag wahrscheinlich daran das ich nur das E-Book habe.
    Gestern lag es in der BIB und flehte mich an - habe es mitgenommen :-)
    Wenn ich mein jetziges Buch je schaffen werde sollte es das Nächste sein.

    LG
    Karin

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  2. Hi Karin,

    ich bin sicher, dass das Buch DIR gefallen wird. Große Literatur mit unglaublich viel Inhalt zum Nachdenken!

    Viel Spaß beim Lesen und wie immer viele Grüße,
    Jogi

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  3. Bitte auch Augenmerk auf die fantastische Sprache legen. Das ist semantisch fern ab von aktuellem (durchaus geschätztem) Psycho-Thriller-Ton oder schwülstig-bemühtem Geschwurbel - einfach eine, der Geschichte und dem Erzählerischem angemessenen, komplexe und warme Sprache. Sätze, wie guter Rotwein, hochwertiger Tee oder ausgesuchter Tabak ;-)

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  4. Hi mein Lieber,

    danke Dir für Deinen Kommentar. Du triffst es genau!

    Viele Grüße,
    Jogi

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