Montag, 30. Mai 2011

Jonathan Franzen - Freiheit


Der Roman „Freiheit“ von Jonathan Franzen ist vielleicht DER amerikanische Gesellschaftsroman schlechthin. Und nach „Die Korrekturen“ dürfte der Autor spätestens jetzt neben Philip Roth zu einem der bedeutendsten US-Gegenwartsautoren avanciert sein. Eine Familie aus der amerikanischen Mittelschicht steht im Mittelpunkt dieses 30-jährigen Epos, in dem es nicht nur um Freiheit, sondern ganz besonders auch um Moral geht. 

Patty, in jungen Jahren eine ambitionierte Basketballspielerin, heiratet Walter Berglund eigentlich nur, weil sich dieser als Einziger wirklich um sie kümmert. In Wahrheit steht sie auf Walters besten Freund Richard, einen Rockmusiker. Walter und Patty haben zwei Kinder. Joey und Jessica,  und wohnen zu Beginn dieses Buches in einem netten Häuschen in St. Paul. Politisch ist die Familie bei den Demokraten angesiedelt, nicht zuletzt auch, weil Pattys Mom eine Berufsdemokratin ist. Da mutet es schon seltsam an, als der ungehobelte, rotzfreche Nachbar mit einem Pickup vorfährt, auf dessen Stoßstange die Worte „Ich bin weiß und ich gehe wählen“ zu lesen sind.

Als das Ehepaar ohne ihre Kinder (den Auszug des Sohnes hat Patty übrigens nie verkraftet) nach Washington zieht, befindet sich Joey längst mitten in seinem Studium und hat sich in seiner Sichtweise den Republikanern zugewandt. Tochter Jessica spielt in diesem Roman eher eine untergeordnete Rolle, vielmehr handelt es sich bei dem vierten Protagonisten um Richard, dem Draufgänger und Musiker, mit dem Patty zwischenzeitlich eine kurze Affäre hatte. Walter nimmt einen etwas seltsamen Job im Bereich des Umweltschutzes an. Es geht um den Schutz eines Singvogels, dem Pappelwaldsänger. Es soll neuer Lebensraum geschaffen werden, auch wenn der anderweitige Umweltschutz darunter enorm leidet. Mit Geld ist eben alles möglich.

Klingt alles unspektakulär? Ist es ganz und gar nicht, denn man lernt hier eine Menge über den verbliebenen amerikanischen Traum. Ein Blick hinter die Kulissen, was in der neuen Welt wirklich abgeht und wie sie funktioniert und droht, zu zerbrechen.

Bis zu Nachbarschaftskriegen unter Hauseigentümern, die sich ihre Hütten allesamt mit günstigsten Krediten finanziert haben und die sie, wie wir alle inzwischen wissen, bald nicht mehr bedienen können, von Katzenliebhabern, denen es vollkommen egal ist, ob diese Vögel killen, das gehört eben zur Freiheit, von dem Griff nach dem Öl, als „Enduring Freedom“ nach außen und innen etikettiert, von emotionalen Gedanken bezüglich des 11. September, die im Zuge der Berichterstattung bei in sicherem Abstand befindlichen Menschen eher Unbehagen als Anteilnahme auslösen, von Versäumnissen und Missverständnissen untereinander…  von all dem handelt dieses Buch, und noch viel mehr.

„Freiheit“ ist beeindruckend und eines der wichtigsten Bücher, welches ich in jüngster Vergangenheit gelesen habe. Weltliteratur! Nach über 700 Seiten stellt sich mir die Frage: Wer schreibt DEN entscheidenden Gesellschaftsroman über uns Deutsche, und vor allen Dingen wann wird er geschrieben?

 ISBN-10: 349802129X
ISBN-13: 978-3498021290
erschienen am 08.09.2010
736 Seiten
Rowohlt Verlag


2 Kommentare:

  1. Hey Jogi,

    ich hab Freiheit noch nicht ganz durch, aber deine Rezension hat nichts vorweggenommen, mich eher bestätigt in meinem bisherigen Urteil. Grüß meine alte Heimat Kreuznach und mach weiter so!

    P.S. Nemesis habe ich zuletzt in einem Rutsch durchgelesen, lohnt sich auch sehr. Roth ist hier ein bisschen zahmer aber sehr ästhetisch. Ein Genuss! Viel Vergnügen dabei!

    AntwortenLöschen
  2. Lieber Bernhard,

    vielen Dank für Deinen netten Kommentar.

    Ja, "Nemesis" ist toll. Ich bin bis jetzt begeistert.

    Viele Grüße,
    Jogi

    AntwortenLöschen